Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Klaus Zeyringer über den aktuellen FIFA-Skandal und die Kulturgeschichte des Fußballs.

Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Klaus Zeyringer über den aktuellen FIFA-Skandal und die Kulturgeschichte des Fußballs.

„Man müsste Entscheidendes ändern, die Strukturen demokratischer gestalten und die Verbände endlich als etwas sehen, das sie sind – nämlich Konzerne.“ (Foto: © Studio Sattler)

LESEPUNKTE: Vielen Dank, Herr Prof. Dr. Klaus Zeyringer, dass Sie sich die Zeit nehmen, um über Ihr Buch „Fußball. Eine Kulturgeschichte“ zu sprechen. Ärgert es Sie eigentlich ein wenig, dass Sie den aktuellen FIFA-Korruptionsskandal und damit den möglichen Anfang eines ungewissen Kapitels des Weltfußballs nicht mehr in Ihr Buch aufnehmen konnten?

Klaus Zeyringer: Ich habe die Ansätze in meinem Buch, indem ich beschreibe, wie die FIFA entstand und zu dem wurde, was sie ist. Man kann nachlesen, wie unter dem FIFA-Präsidenten João Havelange schon ein System begann, das jetzt in der Öffentlichkeit kritisiert wird. Schon in den 1980er Jahren ist dieses System angelegt gewesen. Ich beschreibe, dass im Hintergrund die Firma adidas eine wichtige Rolle spielt und was die FIFA von Veranstalterländern, die eine WM ausrichten wollen, verlangt. Die Vorgeschichte dessen, was jetzt passiert, kann man in dem Buch also schon nachlesen. Es wird im Übrigen eine Taschenbuchausgabe im nächsten Frühjahr geben, wo ich 20 Seiten dazu schreibe und diese Vorgänge miteinbeziehe. Weiterhin erläutere ich, was es bedeutet, dass Deutschland Weltmeister wurde.

LESEPUNKTE: Sie haben selbst Fußball gespielt und verfolgen den Sport als begeisterter Zuschauer. Doch was gab Ihnen den Anstoß, sich dem Thema als Literaturwissenschaftler auf einer kulturhistorischen Ebene zuzuwenden?

Klaus Zeyringer: Ich hatte mich eigentlich schon seit meiner Jugend mit diesen Zusammenhängen beschäftigt – wenn auch sehr laienhaft. Ich hatte dann das große Ziel, eine Literaturgeschichte Österreichs zu schreiben, die 2012 als Buch erschienen ist. Damit hatte ich erledigt, was ich meiner Meinung nach in meinem Bereich machen musste. Nun konnte ich das machen, was ich schon lange im Hintergrund betrieben habe, und konnte beschreiben, welche Zusammenhänge zwischen Kulturgeschichte und Fußball bestehen. Ich habe dieses Buch so konzipiert, dass es auch für interessierte Laien lesbar sein kann, d.h. es gibt narrative, erzählende Elemente, welche die Lektüre entsprechend lustvoll gestalten sollen.

LESEPUNKTE: Warum können auch Menschen, die mit Fußball absolut nichts am Hut haben, Ihr Buch mit Gewinn und Vergnügen lesen? Und was erfährt der Leser nebenbei über die Geschichte der letzten 150 Jahre?

Klaus Zeyringer: Der Schriftsteller Daniel Kehlmann hat das Manuskript gelesen. Er kennt sich im Fußball überhaupt nicht aus und interessiert sich nicht dafür. Er interessiert sich aber für gesellschaftliche Zusammenhänge und historische Entwicklungen, und konnte in dem Buch erfahren, dass die Massengesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr intensiv mit dem Fußball verbunden waren. Es gab Berührungen und eine gegenseitige Beeinflussung von Sport, Fußball und den übrigen Formationen der Gesellschaft. Mit der Entwicklung Brasiliens in der 1930er Jahren kann man erklären, warum sie so Fußball spielen, wie sie es heute tun. Man kann auch nachlesen, wie der Jugoslawienkrieg im Stadion begonnen hat. Man muss sich nicht unbedingt für das Spiel Fußball interessieren, sondern Fußball als gesellschaftlich-kulturelles Phänomen verstehen, wodurch man Entwicklungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute nachvollziehen kann.

LESEPUNKTE: Die Gründung der englischen Football Association FA im Oktober 1863 markiert den Beginn des Fußballs in seiner heutigen Form. Warum war es für den Erfolg des Sports so entscheidend, dass er gerade in England seinen Anfang nahm?

Klaus Zeyringer: Die Engländer waren damals die Weltmacht, beherrschten die Meere und brachten auch den Sport in ihre Kolonien. Sie besaßen in Südamerika sehr viele Unternehmen, bauten Eisenbahnlinien und brachten damit den Fußball dorthin. Die englische Gesellschaft war ein Vorbild für Eliten in der ganzen Welt. England hatte außerdem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Sozialgesetzgebung, die es den Arbeitern erleichterte, zu den Spielen zu fahren, weil samstags nicht mehr gearbeitet wurde. Es gab eine ökonomisch organisierte Gesellschaft, die es ermöglichte, den Fußball als gesellschaftliches Phänomen populär zu machen. Das ist überall in der Welt so passiert: Der Fußball wurde von einem elitären zu einem populären Sport.

LESEPUNKTE: Viele Fans von „Traditionsclubs“ haben heute wenig für sogenannte „Werksvereine“ übrig, die Ihre Gelder hauptsächlich von großen Konzernen beziehen. Unternehmenseigene Vereine sind jedoch fast so alt wie der Fußball selbst. Warum haben Firmen Ende des 19. Jahrhunderts eigene Vereine gegründet?

Klaus Zeyringer: Das war in England unter anderem eine Möglichkeit, die Arbeiterschaft ruhigzustellen. Es gibt einige Beispiele, wo Streiks vermieden wurden, weil die Firma einen Fußballverein gegründet hatte oder in den Fußball investierte. Die Firmen haben es verstanden, dass sie auf diese Art und Weise die Arbeiter einigermaßen disziplinieren können. Sie haben bald auch verstanden, dass im Fußball Geld zu machen war. Das kam aber etwas später. Ursprünglich war das Interesse vorgeblich ein gesundheitliches. Man wollte gesunde, arbeitsfähige Menschen in den Fabriken haben. Wenn sie Sport trieben, war das für die Leistungsfähigkeit günstig.

LESEPUNKTE: Vor etwa hundert Jahren wurden auch zahlreiche Frauenmannschaften ins Leben gerufen. Dieser „Trend“ endete jedoch so schnell, wie er gekommen war. Wie kam es zum ersten Aufstieg und Fall des Frauenfußballs?

Klaus Zeyringer: Das hängt mit dem Ersten Weltkrieg zusammen: Im Sport wie in vielen Bereichen der Gesellschaft waren die Männer zu einem großen Teil nicht zugegen, sie waren an der Front. Die Frauen mussten einige Aufgaben der Männer in der Gesellschaft übernehmen – etwa in den Fabriken. Sie haben festgestellt, dass sie Aufgaben in der Gesellschaft haben, und das Recht dazu auch verlangt. So fingen einige Frauen an, Fußball zu spielen. Das gab es in England zwar auch schon in Ansätzen Ende des 19. Jahrhunderts, wurde aber zwischen Anfang und Ende des Ersten Weltkriegs am intensivsten betrieben. Es gab 1921 ein Match zwischen einer Mannschaft aus London und einer aus Paris, bei dem 50.000 Zuschauer waren. Dann haben die Männer aber wieder sehr schnell ihre Domänen für sich beansprucht und die Frauen wurden ausgeschlossen. Es wurde den Frauen in den 1920er Jahren und über die folgenden Jahrzehnte hinweg von den Verbänden und Vereinen immer wieder verboten, Fußball zu spielen. Der Frauenfußball kam dann erst in den 1970er Jahren so richtig ins Rollen.

LESEPUNKTE: Sie schreiben: „Vielleicht ist Fußball heute das einzige Volksmärchen.“ Was meinen Sie mit dieser Formulierung?

Klaus Zeyringer: Über Fußball wird sehr, sehr viel erzählt. Überall, wo man hinkommt, hat man sehr schnell Gesprächspartner, mit denen man einerseits über das Wetter und andererseits über den Fußball reden kann. Es wird über das Match des letzten Samstag oder Sonntag erzählt, über die letzte Weltmeisterschaft und über die Vergangenheit. Es gibt Erzählungen, die populär sind, die weitergegeben werden, die Mythen und Legenden bilden und die Wunder kennen, beispielsweise das „Wunder von Bern“. Sie funktionieren wie eine Volkserzählung. Sie werden in der Erzähltradition von Märchen, welche ja heute kaum noch erzählt werden, weitergegeben und enthalten Elemente, die nicht mehr die Tatsächlichkeiten des Spielfelds, sondern Mythen, Legenden und Geschichten erzählen.

LESEPUNKTE: Sie haben gerade erläutert, dass einzelne Spiele, Tore, Bilder und O-Töne in das kollektive Gedächtnis eingehen und somit zu Erinnerungen werden, die fast jedem präsent sind – oder zumindest einer bestimmten Gruppe. Was ist Ihre persönliche erste und Ihre prägendste Erinnerung in Bezug auf Fußball?

Klaus Zeyringer: Das ist schwer zu sagen. Meine ersten Erinnerungen sind ganz privat, wie ich als Kind im Park Fußball spiele. Da gibt es viele Bilder, die ich aus meiner kindlichen Phase zwischen sechs und acht im Kopf habe. Es kommen dann langsam auch Bilder von Matchbesuchen in Graz mit Schülergruppen, als ich zwölf/dreizehn Jahre alt war. Das war damals jedoch selten, da ich auf dem Land in Österreich geboren wurde. Dann kamen mit dem Fernsehen die medialen Bilder. Die ersten Fernsehbilder, an die ich mich wirklich gut erinnern kann, sind jene von der Weltmeisterschaft 1966 in England, als Deutschland gegen England das Finale in der Verlängerung verlor. Diese Bilder habe ich noch intensiv im Kopf, auch wenn sie durch die Erzählungen mittlerweile etwas verändert wurden.

Es gibt dazu ein Beispiel, wie Erzählungen Tatsächlichkeiten in ein anderes Licht rücken können: Es gibt ein sehr bekanntes Bild von Uwe Seeler, das auch in meinem Buch abgebildet ist, auf dem er gebückt vom Spielfeld geht, während ein britischer Polizist helfend seine Schulter greift und sich gleichzeitig eine Blaskapelle zum Spielen aufstellt. Dieses Bild ist für fast alle, die es kennen, – und so schreibe ich es auch in meinem Buch – ein Bild vom Ende des Spiels: Uwe Seeler geht nach der verlorenen Verlängerung erschöpft und niedergeschlagen vom Feld. Seit kurzer Zeit weiß ich, dass dieses Bild vermutlich schon in der Halbzeit aufgenommen wurde und gar nicht den Verlierer Uwe Seeler darstellt, welcher selbst bis heute meint, dass es nach der Niederlage aufgenommen wurde. Spezialisten haben herausgefunden, dass die Kapelle nachher nicht spielte, also konnte es nur in der Halbzeit sein.

LESEPUNKTE: Der Fußball ist heute medial allgegenwärtig – vom Sportmagazin über die Tageszeitung bis zu den Sozialen Netzwerken. Gab es dieses riesige Medieninteresse seit den frühen Jahren des Fußballsports?

Klaus Zeyringer: Das gibt es seit den 1920er Jahren mit der Entstehung der Massenmedien und dem Massenbesuch in den Stadien – in England schon etwas früher. Es begannen eine sehr intensive Berichterstattung in den Zeitungen und Radioübertragungen, bis der wesentliche Sprung mit dem Fernsehen kam. Für die WM 1950 hat man in Brasilien extra das Fernsehen und für die WM 1970 in Mexiko in vielen Ländern das Farbfernsehen eingeführt. Dazu kommt, dass mit dem Fernsehen enorm viel Geld in den Fußball geflossen ist, was wiederum dazu führte, dass der Fußball vom Fernsehen fast täglich gezeigt wird.

LESEPUNKTE: Sie widersprechen in Ihrem Buch der Behauptung des Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa, dass die Zuschauer lediglich ins Stadion gingen, um dort ihre primitiven, aggressiven Triebe auszuleben. Was macht den Besuch in der Fankurve Ihrer Meinung nach aus?

Klaus Zeyringer: Es kommt ganz darauf an, in welchem Zusammenhang und in welcher Gruppe man sich ins Stadion bewegt. Es gibt – und deswegen widerspreche ich auch Vargas Llosa – sehr viele verschiedene Zugänge. Es gibt im Stadion auch nicht nur eine Art von Stimmung: Sie kann aggressiv sein, muss es aber nicht. Manchmal ist die Stimmung wie bei einer Messe. Wenn man an englische Stadien denkt und wie dort gesungen wird, hat man manchmal den Eindruck es sei eine Liturgie. Insofern ist das, was Vargas Llosa schreibt, viel zu einfach und simpel. Es ist nicht so, dass Fußball nur Menschen interessiert, die ihre primitiven Triebe ausleben wollen, sondern er kann vieles bieten. Er kann eine Art von Ästhetik bieten, von Strategie. Es kann natürlich Ausschreitungen geben, das sieht man regelmäßig. Es kann aber auch eine enorme Freude, ein Gemeinschaftsgefühl, ein Kollektivgefühl entstehen, dass sehr bestärkend sein kann. Es gibt sowohl positive als auch negative Elemente. Auch bei den sogenannten Ultras ist es nicht so, dass sie nur aggressiv im Stadion auftreten. Ein Beispiel ist das Gedenken an den von den Nazis vertriebenen jüdischen Präsidenten des FC Bayern München [Kurt Landauer; Anm. d. Red.], welches eine Münchner Ultragruppe angestoßen hat.

LESEPUNKTE: Aktuell werden Bestechungsvorwürfe im Zusammenhang mit den Vergaben der WM nach Südafrika, Brasilien, Russland und Katar untersucht. Ist dieser Zustand aus Ihrer Kenntnis über die Geschichte der Weltmeisterschaften – angefangen mit der WM 1930 in Uruguay – überhaupt etwas Außergewöhnliches?

Klaus Zeyringer: Nein, es ist sicher nichts Außergewöhnliches. Nur war es in früheren Zeiten so tatsächlich nicht der Fall. Die Fußballweltmeisterschaft 1930 in Uruguay war ein enormes Risiko für die Veranstalter. Sehr lange war die WM keine Veranstaltung, bei der alle Fußballländer der Welt präsent sein wollten: 1950 in Brasilien und 1962 in Chile sagten einige europäische Mannschaften ab, da es ihnen als zu teuer erschien. Damals waren die Bedingungen noch nicht so, dass viel Geld im Umlauf war und ein Land Korruption betreiben musste, um die Weltmeisterschaft zu bekommen. Das hat sich mit der enormen Geldmenge entwickelt, die im Umlauf ist, also etwa mit der Präsidentschaft von João Havelange und der Beteiligung von Horst Dassler und adidas. Nachweislich sind die Bestechungsgelder seit etwa zwanzig Jahren unterwegs, mit Joseph Blatter noch intensiver. Das Problem ist nicht neu, man kann es jedoch frühestens in den 1980er Jahren beobachten, wobei aus diesen Jahren nicht bekannt ist, dass für die Austragung einer WM Korruptionsgeld geflossen sei. Das erste Mal, für das man es wahrscheinlich nachweisen wird können, ist die WM in Deutschland.

LESEPUNKTE: Die FIFA scheint auch in früheren Zeiten schon sehr geübt darin gewesen zu sein, gegenüber Menschenrechtsverletzungen beide Augen zuzudrücken, um den Spielbetrieb des angeblich unpolitischen Sports nicht zu gefährden. Als Beispiel führen Sie das WM-Qualifikations-„Spiel“ von Chile gegen die UdSSR 1974 an.

Klaus Zeyringer: Im September 1973 ereignete sich in Chile der Putsch von Pinochet und seinen Anhängern gegen die demokratisch gewählte Regierung von Salvador Allende. In zwei große Stadien von Santiago de Chile wurden die politischen Gegner verfrachtet, von denen zehntausende gefoltert und getötet wurden. In einem dieser Stadien hätte die Sowjetunion das Entscheidungsspiel zur Qualifikation für die WM 1974 in Deutschland spielen sollen. Die Sowjets lehnten jedoch ab, in diesem Stadion zu spielen. Es gab eine FIFA-Untersuchungskommission, die sich nach Chile begab, aber vor allem darauf ausgerichtet war, die Gesetzgebung der FIFA durchzusetzen. Der Zuständige der FIFA erklärte, es sei alles in Ordnung, der Rasen sei perfekt, Gefangene habe man kaum gesehen, obwohl genau zu diesem Zeitpunkt dort noch gefoltert wurde. Die Sowjetunion ist schließlich nicht angetreten, die Chilenen haben Soldaten als Publikum ins Stadion beordert, die chilenische Elf hat den Anstoß vorgenommen, einer hat den Ball ins Tor geschossen, der Schiedsrichter hat abgepfiffen, weil der Gegner nicht da war – und so sind die Chilenen zur WM nach Deutschland gefahren.

Die politische Vereinnahmung war allerdings nichts Neues. Mussolini hat das in den 1920er Jahren schon bestens verstanden. Bei der Fußballweltmeisterschaft 1934 in Italien wurden mit großer Wahrscheinlichkeit Schiedsrichter von Mussolini bestochen. Interessant ist beispielsweise auch die politische Vereinnahmung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin, was aus unserer Sicht heute schier unglaublich ist. Die politische Vereinnahmung hat in dem Moment begonnen, als der Fußball zum Massenphänomen wurde.

LESEPUNKTE: Sie verweisen auf eine Aussage von Berti Vogts, der 1978 in Argentinien keine politischen Gefangenen bemerkt haben will. Unweigerlich klingt dem Leser Franz Beckenbauer im Ohr, der die Reporter belehrte: „Ich habe noch nicht einen einzigen Sklaven in Katar gesehen.“ Warum können selbst diktatorische Systeme und menschenverachtende Verhältnisse der Fußballbegeisterung nichts anhaben?

Klaus Zeyringer: Selbst die Zusammenhänge und Korruptionsfälle, die jetzt immer wieder in den Medien sichtbar werden, können nicht dazu führen, dass ich mich nicht mehr ins Fußballstadion begeben oder dem Spiel im Fernsehen zuschauen möchte. Das Spiel ist derartig faszinierend – und durch unsere Sozialisation faszinierend gemacht worden – , dass wir uns davon kaum befreien können, selbst wenn wir es wollten. Ich betrachte das Spiel mit zwei Augen: mit einem lustvollen, mit dem ich mir die Spiele ansehe, und einem kritisch-analytischen Auge, mit dem ich mir die Hintergründe, Strukturen und Zusammenhänge ansehe.  Was die Fußballspieler selbst betrifft, wie Berti Vogts, Franz Beckenbauer und viele andere, leben diese ja in einer Blase. Von den Realitäten nehmen sie nicht so viel wahr wie durchschnittliche Menschen. Für die Fußballer wird eine ganz eigene Welt abgeschirmt. Ein Beispiel ist die WM 1978 in Argentinien: Als Deutschland gegen Österreich in Córdoba spielte, war unweit des Stadions ein Zentrum der argentinischen Junta, die dort Menschen foltern ließ. Das hat damals weder die Fernsehreporter noch die übrigen Journalisten noch die Spieler weiter interessiert.

LESEPUNKTE: Mittlerweile sollte jedem klar sein, dass der Fußball – vor allem der organisierte Profisport – alles andere als unpolitisch ist. Können Sie uns erklären, warum dennoch immer wieder das Gegenteil behauptet wird?

Klaus Zeyringer: Das ist die grundlegende Erklärung für Sportverbände, um ihre Einflusssphäre zu schützen. Die Sportverbände – und es handelt sich nicht nur um den Fußball, sondern im Besonderen auch um das Olympische Komitee, das von Anfang an mit dem Baron Pierre de Coubertin von der friedlichen Welt träumte und Politik aus dem Stadion halten wollte – haben größtes Interesse daran, dass dies so gesehen wird. Dann können sie ihren eigenen Raum abstecken und auf der ganzen Welt behaupten, es sei ein ganz eigener Raum. Und tatsächlich geben bei Fußballweltmeisterschaften und -europameisterschaften die Länder, die diese Veranstaltungen durchführen, ganz wesentliche Hoheitsrechte an Verbände ab. Damit ist der Raum im und um das Stadion praktisch nicht mehr Staatsgebiet, sondern Hoheitsgebiet des Verbandes. Die Verbände sitzen zu großen Teilen in der Schweiz, sowohl die FIFA als auch das IOC und 50 weitere internationale Sportverbände. Dort sind sie rechtlich gesehen wie ein Kegelclub als gemeinnützige Vereine registriert. Sie müssen für ihre Tätigkeit behaupten, sie hätten mit Politik überhaupt nichts zu tun, dann funktioniert es für sie am besten. Somit haben sie ihren eigenen Raum, in dem sie ihre eigenen Regeln gestalten und sich verhalten können, wie sie wollen. Es wird deswegen auch gerne zitiert, weil es einer Vorstellung entspricht, in der wir uns im Rahmen der Fernsehkultur von den Realitäten entfernen und den Fußball zu einem Märchen werden lassen.

LESEPUNKTE: Sie verweisen in Ihrem Buch von 2014 noch auf die erstaunliche Unwissenheit der Öffentlichkeit über die Machenschaften der FIFA. Auch das sollte sich nun geändert haben. Haben Sie Hoffnung, dass sich grundlegend etwas am System ändert?

Klaus Zeyringer: Nein, die Hoffnung habe ich nicht. Es könnte allerdings passieren – das ist schwer vorherzusehen. Im Grunde haben die Beteiligten selbst kein Interesse daran, dass sich die Strukturen wesentlich ändern. Es gibt keine demokratischen Verhältnisse in diesen Verbänden, es gibt keine Kontrolle, es gibt immer wiederkehrende Machtverhältnisse. Man müsste Entscheidendes ändern, die Strukturen demokratischer gestalten und die Verbände endlich als etwas sehen, das sie sind – nämlich Konzerne. Die FIFA oder das IOC funktionieren wie Konzerne, das sind keine gemeinnützigen Vereine. Sie geben auch Geld gemeinnützig her, vor allem bewegen sie aber enorm viel Geld für sich selbst. Man kann mir nicht erklären, dass die FIFA ein gemeinnütziger Verein sei, wenn sie 1,5 Milliarden Euro Reserve hat. Wenn die FIFA gemeinnützig wäre, würde sie Steuern zahlen in den Ländern, in denen die Fußballweltmeisterschaft durchgeführt wird. Das Interessante an der Berichterstattung ist, dass man über Korruption und das System schreibt, aber kaum, – außer gelegentlich in der Süddeutschen Zeitung, wo der Journalist Thomas Kistner der am besten Informierte in der ganzen Zunft ist – dass die Länder ganz wesentliche Hoheitsrechte an Verbände nach Schweizer Recht abgeben. Wenn das in unserer Gesellschaft intensiver diskutiert würde, müsste man unsere Politikerinnen und Politiker befragen, wie es kommt, dass sie wichtige Hoheitsrechte des Staates wie Grenzkontrollen, Geldwechsel und Finanzaustausch oder das Recht, bestimmte Marken an bestimmten Orten zu verkaufen, einfach abgeben. Das fehlt mir in der heutigen medialen Debatte.

(Interview: Philipp Scherber)

Kurzbiografie

Prof. Dr. Klaus Zeyringer beschäftigt sich als Germanist in der Regel eher mit Literatur als mit Fußball. Doch seit seiner Kindheit - geboren wurde er 1953 in Graz - ist er von diesem Sport begeistert. Und so entschloss er sich nach zahlreichen Veröffentlichungen, vor allem zur Literaturgeschichte Österreichs, sein nächstes Buch der Kulturgeschichte des Fußballs zu widmen.
Nach dem Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie an der Universität Graz promovierte Zeyringer 1980 mit einer Dissertation über Karl Valentin. Dieser schloss er 1993 eine Habilitation über "Österreichische Literatur der achtziger Jahre" an.
Heute hat Klaus Zeyringer eine Professur für Germanistik an der Université Catholique de l’Ouest in Angers (Frankreich) inne. Darüber hinaus ist er als Literaturkritiker tätig, betreut die Reihe "Transflair" im Unabhängigen Literaturhaus Niederösterreich und ist Mitglied verschiedener Kulturprojekte.

Empfohlene Zitierweise

Interview mit Klaus Zeyringer (Philipp Scherber). In: lesepunkte 10 (2015), Nr. 2. http://lesepunkte.uni-koeln.de/interview/der-literaturwissenschaftler-prof-dr-klaus-zeyringer-ueber-den-aktuellen-fifa-skandal-und-die-kulturgeschichte-des-fussballs/
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