Irmgard Keun: Kind aller Länder

Lesepunkte: 4 Punkte
AutorIn: Irmgard Keun
Titel: Kind aller Länder
Verlag: Kiepenheuer&Witsch, 2016 ISBN: 978-3-462-04897-1
Seiten: 224 Preis: 17,99 Euro
Altersempfehlung: ab 14 Jahren

Rezensiert von: Benedikt Gilgenberg [Geschwister-Scholl-Gymnasium Pulheim; Betreut von: Jens Tanzmann]

„Kind aller Länder“ ist ein Exilroman von Irmgard Keun, der 1938 bei dem Exilverlag „Querido“ in Amsterdam erstmalig erschienen ist. In der Lektüre geht es um die zehnjährige Kully, die zusammen mit ihren Eltern aus Deutschland und somit vor Adolf Hitler und seinem Regime flüchten muss.

Kully, ein zehnjähriges Emigrantenkind aus dem Rheinland, beschreibt ihre Erlebnisse der Vorkriegsjahre 1936 bis 1938 an den Orten Lemberg, Salzburg, Prag, Ostende, Brüssel, Amsterdam, Paris, San Remo, Nizza und New York. Der Grund für ihre Emigration ist der Vater, der als Schriftsteller tätig ist und fliehen muss, da er das nationalsozialistische Regime in Deutschland kritisiert hat und somit in Deutschland verfolgt werden würde. Seine Bücher verkaufen sich aber außerhalb Deutschlands schlecht und deshalb ist Kullys Vater auf der ständigen Jagd nach Geld, die ihn fast durch ganz Europa treibt. Er lässt bei seinen abenteuerlichen, meist erfolglosen Beschaffungstouren, seine Familie in Belgien bzw. Holland zurück. Trotzdem verliert Kully kein schlechtes Wort über ihren leichtsinnigen Vater, einen Trinker und Verschwender. Aus dem Erzählten werden aber trotzdem beiläufig mehrere väterliche Eskapaden bekannt und darüber hinaus werden die Schwierigkeiten der jungen Kully und ihrer Mutter mit dem Vater und der allgemeinen Situation deutlich. Dazu gehört zum Beispiel auch die Sorge darum, dass regelmäßig neue Visa beschafft werden müssen oder die Familie sich illegal in einem Land aufhält. Darüber hinaus ist die deutsche Bedrohung allgegenwärtig. Nachts singt zum Beispiel in Amsterdam jemand das Horst-Wessel-Lied. Der einzige Lichtblick ist das US-Visum, das der Vater für die kleine Familie besorgen konnte. Die Reise in die Vereinigten Staaten wird allerdings von einem Zwischenfall überschattet, aus dem resultiert, dass Vater und Tochter ohne die Mutter reisen müssen (…).

Sehr auffällig ist Irmgard Keuns von kindlicher Komik und Leichtigkeit geprägter Erzählstil, da Keun ihre Protagonistin die Welt mit den Augen einer Zehnjährigen betrachten lässt (z.B.: „Washington“ ist „keine Stadt, sondern eine Torte aus Zucker und weißem Schaum“). Das macht das Lesen überwiegend angenehm und abwechslungsreich, die kindliche Perspektive erschwert das Lesen aber auch, da vor allem Gedankensprünge manchmal sehr irritierend wirken und den Inhalt recht schwer verständlich machen. Durch die kindliche Erzählerin wird aber auch deutlich, dass Kinder den Terror oftmals gar nicht als eine reale Bedrohung ihrer eigenen Existenz empfanden, sondern eher als „normal“. Sie vertrauten auf ihre Eltern und konnten so länger als diese die Hoffnung aufrechterhalten, dass alles gut würde. Als Beleg dafür kann man anführen, dass Kully ihre Wanderschaft durch Europa nicht für eine Flucht, sondern für eine Reise hält. Diese Reise wird zur Befreiung, der Stillstand und der Aufenthalt geraten jedoch zur Warteschleife, zu einem bedrückenden Zustand des Aushaltens, Verharrens und Hoffens. Eng damit verknüpft ist die Angst vor den Nationalsozialisten.

Trotz allem, oder gerade deswegen, werden die politische Brisanz der Thematik und die prekäre Lage der Familie deutlich, vor allem als Kullys Vater seine Meinung über das deutsche Regime verkündet (vgl. S.119). Da das Buch 1938 erstveröffentlicht wurde, wird deutlich, dass es im Roman durchaus auch Parallelen zum Leben der Autorin gibt, da auch diese im Exil lebte. Ein Grund dafür wird sicherlich ihre Kritik an der NS-Diktatur gewesen sein, die sie den Vater in Ihrem Roman aussprechen lässt. Vor allem im Hinblick auf die Zeit der Veröffentlichung handelt es sich meiner Meinung nach um ein – wenn auch manchmal etwas verwirrendes – sehr lesenswertes Buch.

Empfohlene Zitierweise

Benedikt Gilgenberg, Rezension von: Irmgard Keun: Kind aller Länder, In: LESEPUNKTE 2017, URL: https://www.lesepunkte.de/rezensionen/irmgard-keun-kind-aller-laender/
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