Irmgard Keun: Kind aller Länder

Lesepunkte: 5 Punkte
AutorIn: Irmgard Keun
Titel: Kind aller Länder
Verlag: Kiepenheuer&Witsch, 2016 ISBN: 978-3-462-04897-1
Seiten: 224 Preis: 17,99 Euro
Altersempfehlung: ab 14 Jahren

Rezensiert von: Gesine Geupel, Oberstufe [Max-Ernst-Gymnasium Brühl; Betreut von: Dagmar Lorenzen]

Kully ist noch ein kleines Mädchen, doch sie kennt sich schon aus mit Visa und Pässen. Ihr Zuhause sind wechselnde Hotels und Unterschlupfe bei Bekannten des Vaters. Nach ihrer Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland führt die Familie ein Nomadenleben und lebt von der Hand in den Mund. Geld fehlt an allen Ecken und Enden, denn der Vater, ein Autor, lebt gern ausschweifend und verschwenderisch. Kein leichtes Leben für ein so junges Kind, doch Kully ist anpassungsfähig, kann sich verständigen, auch wenn sie die jeweilige Sprache nicht spricht, und sie beherrscht die Tricks der Familie, um sich in jeder Situation durchzuschlagen. Wohin wird die scheinbar endlose Reise dieses bewundernswerten Mädchens führen?

Aus Kullys Perspektive wird diese Geschichte erzählt. Jedoch schrieb die Autorin das Buch während ihrer Zeit im Exil und verarbeitet darin eigene Erfahrungen. Dort führte sie eine Liebesbeziehung mit Joseph Roth – das Paar spiegelt sich in den Figuren der Eltern wider.

Kullys kindliche Sicht, aus der häufig Missinterpretationen resultieren, wirft ein ganz anderes Licht auf die Geschehnisse, als der Bericht eines Erwachsenen es tun würde, und zieht viele eigentlich ernsthafte Dinge ins Komische. Sie ist ein facettenreich gestalteter Erzählcharakter, da sie trotz ihrer naiven Weltanschauung manchmal eine überraschende Reife an den Tag legt.
Die Geschichte wird chronologisch, aber szenisch erzählt, wobei sie stilistisch einfach, doch sehr bildlich und flüssig lesbar ist. Der Autorin gelingt eine pointierte Darstellung der Szenen und eine ausgewogene Balance zwischen Humor und Ernsthaftigkeit. Man kann sich darüber streiten, ob der Roman nicht eine Verherrlichung von Flucht darstellt, da Kully eine überwiegend positive Sicht der Dinge hat und sie sich auch an problematische Situationen fast problemlos anpasst. Trotz der Leichtigkeit der Erzählung stößt es dem Leser oft sauer auf, wenn er begreift, dass Kully aufgrund ihres Nomadendaseins keine Freunde finden kann, keine ausreichende Schulbildung erhält und dass ihre Familie auf eine Zerreißprobe gestellt wird – Dinge, die Kully selbst nicht begreift. Ihr selbst liegt Selbstmitleid fern, doch der Leser deutet das, was Kully erzählt, anders als sie selbst und kann sich auch in ihre Mutter hineinversetzen, die am meisten unter diesem Lebenswandel leidet. Das Buch ist keineswegs rührselig – im Gegenteil – doch es hat mich sehr bewegt, auch vor dem aktuellen Hintergrund.

Gerade heutzutage sind Fluchtgeschichten sehr aktuell. Viele Kinder befinden sich auf der Flucht aus den Krisenregionen dieser Welt und erleben diese Flucht ganz anders als Erwachsene. Der Roman regt dazu an, sich über die Schicksale dieser Kinder Gedanken zu machen. Da die Autorin selbst ein Flüchtling war, ist der Roman authentisch und ein Dokument jener Zeit, doch viele Dinge lassen sich auch auf die heutige Situation übertragen, zum Beispiel die Fragen nach wahrer Heimat und nach Integration. Kully kommt in keinem Land wahrhaftig an, sie lebt in einer Art Seifenblase und hat selten Heimweh und wenn doch, dann nach unterschiedlichen Ländern. Die Familie wird nirgendwo integriert, sondern muss, nachdem das Visum nach kurzer Zeit abläuft, weiterziehen. Eine derartige Heimatlosigkeit ist etwas, was man niemandem wünscht, doch es ist auch etwas, mit dem viele Flüchtlinge heutzutage zu kämpfen haben, während sie in der Warteschleife der Bürokratie festhängen, in der ständigen Angst, nicht bleiben zu dürfen.

Ich gebe dem Buch fünf Lesepunkte und eine klare Leseempfehlung. Die interessante Protagonistin und die daraus resultierende Perspektive sowie die sprachliche Gestaltung machen die Geschichte, die auch vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingsproblematik an Bedeutung gewinnt, lesenswert und berührend.

Empfohlene Zitierweise

Gesine Geupel, Rezension von: Irmgard Keun: Kind aller Länder, In: LESEPUNKTE 2017, URL: https://www.lesepunkte.de/rezensionen/irmgard-keun-kind-aller-laender-8/
Bitte setzt beim Zitieren dieses Beitrags hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Eures letzten Besuchs dieser Online-Adresse.

Noch keine Kommentare bis jetzt

Einen Kommentar schreiben