„Ich bin die Frau, die Sie suchen, Sir. Ich werde mit dem Fahrrad um die Welt radeln.”
Boston, Massachusetts, April 1894. In einem Bostoner Herrenclub schließen zwei Männer
eine Geldwette von nicht unbeträchtlicher Höhe ab, denn man ist der Meinung, dass eine
Frau niemals mit einem Fahrrad um den Globus kommen würde.
Annie Kopchovsky ist die 22-jährige Protagonistin. Sie ist Jüdin und hat bereits drei Kinder. Mit ihnen, sowie mit ihrem Mann, ihrem Bruder, der Schwägerin und deren Kindern, bewohnt sie zwei kleine Zimmer in einem Armenviertel. Die Familie ist alles andere als Wohlhabend und Annie nimmt neben dem Muttersein und Hausfrauenleben noch Werbeanzeigen für verschiedene Zeitungen auf. Als sie nun zufällig die Anzeige gerade dieser Wette aufnehmen soll, ist sie plötzlich fest entschlossen – sie wird mit dem Fahrrad um die Welt fahren. Schließlich scheint es der perfekte Plan, um das Preisgeld und somit ein besseres Leben für die Familie zu sichern.
Gesagt, getan.
Trotz heftiger Widersprüche ihres Mannes und Verwandtschaft begibt sich Annie auf die Reise. Ein 21kg schweres Rad, die Klamotten am Leib, eine Garnitur
Wechselunterwäsche, und einen Revolver. Mehr nimmt sie nicht mit. Ihren Namen ändert
sie, aus Werbezwecken, zu Londonderry. Während ihrer Reise stößt die junge Frau nicht
allzu selten an körperliche und mentale Grenzen. Die fast undenkbaren Wetterverhältnisse, schlechte Straßen, Straßenräuber und noch vieles mehr machen ihre Tour zur größten Herausforderung ihres Lebens. Ein Besuch im Jahre 1940 leitet rückblickend immer wieder Einblicke in das bewegte Leben.
Annie Londonderry
war eine der ersten Frauenrechtlerinnen und Emanzipierten. Sie wollte nicht bloß zuhause rumsitzen und zusehen, wie das Leben an ihr vorbeizieht, sie entschloss sich etwas zu unternehmen. Etwas zu ändern. Dass solche Vorbilder, besonders zur damaligen Zeit, aber auch heute noch, unglaublich wichtig für die Entwicklung der
Gleichberechtigung und der Emanzipation der Frauen waren und sind, ist bekannt. Dass
über Annie, bis zu diesem Roman nur ein einzelnes anderes Buch existierte, zeigt allerdings auch, wie schnell solche herausragenden Menschen wieder in Vergessenheit geraten können.
Umso wichtiger, dass sie in heutiger Zeit aufgearbeitet werden, denn auch wenn vieles sich geändert, können wir doch noch einiges von der mutigen Frau lernen.
Neben Frauen wie Ida Pfeiffer, Nellie Bly, Kay Cottee und einigen weiteren schaffte auch Annie ‘Londonderry’ Kopchovsky es durch ihre Reisen, den Weg für Frauen noch Generationen nach ihr zu öffnen.
Sprachliche Gestaltung
Sprachlich ist der Roman nicht zu anspruchsvoll und verwendet einige zeitrelevante Begriffe, die allerdings im genannten Glossar vermerkt sind. Es wird eine alltägliche und ungefilterte Sprachweise genutzt, was die Authentizität unterstützt und ein einbezogenes Lesegefühl verursacht.
In diesem Roman verbinden sich spielend mit der historisch belegten Person Annie
Kopchovsky einige fiktive Elemente. Da, wie dem Autorenkommentar zu entnehmen ist, nur recht wenig über Annies Lebensgeschichte tatsächlich belegt werden kann, war hier die Kreativität der Autorin gefordert. Susanna Leonard gelingt es auf geschickte Art und Weise, die Realität mit dem fiktiven zu verbinden und verschmelzen zu lassen. Ihr gelingt es, spannend und interessant zu schreiben, und dennoch ihre Worte so zu wählen, dass man als Leser immer in der knallharten Realität gefangen bleibt. Im Roman werden zwei zeitlich verschiedene Perspektiven schlau genutzt um die Geschichte Stück für Stück, Pedaltritt für Pedaltritt zu enthüllen. Annies Lebensgeschichte teilweise fiktiv aufzuarbeiten war keine unbedachte Entscheidung, und ist doch sicherlich Geschmackssache. Fiktive Figuren sind in einer Charakterübersicht gekennzeichnet und somit gut von den historisch nachweisbaren Personen zu trennen. Ein Glossar gibt weiteren historischen Kontext und Erklärung.
In einer Zeit, in der die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Rechte der Frau als
gesichert gelten sollten, gibt es trotzdem an einigen Orten noch große Probleme. Literatur über Frauen, die sich schon vor knapp hundertdreißig Jahren diesen Hürden gestellt, und der männerdominierten Welt getrotzt, haben, ist meiner Meinung nach immer angebracht und wichtig.
Ob als Inspiration für moderne Frauen
oder als lehrreiches Vorbild für die männliche Population, diese Frauen und ihre Geschichten verdienen es gelesen zu werden. Susanna Leonard kreiert in ihrem Roman eine einzigartige Mischung aus Fiktion und
Realität und fesselt den Leser mit einer schillernden Persönlichkeit auf einer ereignisreichen Reise. Ich empfehle diesen Roman all denjenigen, die sich gerne inspirieren lassen möchten und sich für historische Personen interessieren. Ich denke, er kann auch für viele jüngere eine Inspirationsquelle sein und empfehle ihn für ein Alter ab 14 Jahren.
Das Werk ist gut aufbereitet und äußerst abwechslungsreich, vor allem durch die zwei verschiedenen Perspektiven. „Die Radfahrerin: Annie Londonderry“ erhält von mir fünf von fünf LESEPUNKTEN.